Barrierefreier Sportevent -

Sportstätten der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland


 

Inhalt

 

 

 

Kurzfassung

 

 

Einführung

Deutschland ist Gastgeber der FIFA WM 2006TM. Welche Situation erwartet Menschen mit Behinderungen in den dafür neu- oder umgebauten zwölf Stadien?

Für die Ausrichtung der Fußballeuropameisterschaft 2004 in Portugal wurden zahlreiche neue Sportstätten errichtet. Im Estádio Avalade in Lissabon wurden dabei hinter einer Videoleinwand 600 Sitzplätze für Menschen mit Sehbehinderungen angeboten.

 

Stadion Estadio Avalade
Stadion Estadio Avalade
Quelle:Stadionwelt 2004

 

In Deutschland soll die Ausgrenzung durch bauliche Barrieren mit der Einführung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) im Mai 2002 verhindert werden. Ist dieser Anspruch in den Rahmenbedingungen der Gesetze, Normen und Empfehlungen für Sportstadien in Deutschland umgesetzt?

Ziel der Arbeit ist die Überprüfung und Bewertung der barrierefreien Zugänglichkeit teilnehmender Stadien der FIFA WM 2006TM für Menschen mit Behinderungen. Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben, Forderungen verschiedener Behindertenverbände und individueller Bedürfnisse von Betroffenen werden bauliche Kriterien erarbeitet und die Barrierefreiheit ausgewählter Stadien vor Ort überprüft.

 

 

Übersicht über die Vorgehensweise

 

Übersicht über die Vorgehensweise

 

Menschen mit Behinderungen

Der Behinderungsbegriff hat in den vergangenen 25 Jahren eine bedeutsame Entwicklung vollzogen. Ausgehend von der veralteten Definition der Behinderung als individuelles Defizit einzelner Menschen wird Behinderung heute als allgemeines Defizit der gebauten Umwelt verstanden. Behinderung liegt nach heutigem Verständnis vor, wenn in der Struktur der Gesellschaft und der Lebensumwelt des Einzelnen Barrieren bestehen, die ihn mit seinen individuellen Fähigkeiten an der barrierefreien Teilhabe hindern. Die Umsetzung der uneingeschränkte Teilhabe und barrierefreien Zugänglichkeit aller Menschen zu allen Lebensbereichen liegt in der Verantwortung der Gesellschaft.

Im Behindertengleichstellungsgesetz wird das Ziel formuliert, diese Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen und ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben zu ermöglichen. Nach der Definition des BGG ist ein Mensch behindert, wenn die Teilhabe am Leben durch seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit beeinträchtigt ist und von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Diese allgemeine Formulierung reduziert Menschen mit Behinderungen nicht länger auf Menschen mit Schwerbehinderungen, sondern schließt ausdrücklich auch Menschen mit Mobilitätsbehinderungen ein. Dazu zählen auch ältere Menschen oder Menschen mit zeitweiligen Behinderungen durch Unfall oder Krankheit. Nach Schätzungen der Europäischen Union sind 30-35 % der Bevölkerung Europas in naher Zukunft von Mobilitätsbehinderungen betroffen. Für diesen bedeutsamen Anteil der Bevölkerung mit individuellen Anforderungen gilt es eine Umwelt ohne Barrieren zu schaffen.

Durch die Zusammenfassung der Mobilitätsbehinderungen nach bewegungsbedingten, sensorischen, kognitiven und zeitweiligen Ursachen sind zahlreiche gemeinsame Anforderungen von Menschen mit Mobilitätsbehinderungen an die Barrierefreiheit der Stadien zu erwarten.

 

Barrierefreie Zugänglichkeit

Aufgrund der Bevölkerungsverteilung und -entwicklung hin zur Überalterung der Gesellschaft erhält das Thema der barrierefreien Zugänglichkeit eine besondere Brisanz, da früher oder später alle Menschen betroffen sein können. Der selbstständige und uneingeschränkte Zugang zu Gebäuden, Informationstechnologien und technischen Gebrauchsgegenständen, also zu allen gestalteten Lebensbereichen, ist allen Menschen als Grundrecht auf internationaler und europäischer Ebene zugesichert. Entscheidend für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ist jedoch die gesetzliche Umsetzung dieses Anspruchs. In Deutschland sind die Bundesländer für die konkrete bauliche Ausgestaltung dieser Vorgaben in den Landesbauordnungen zuständig. Oftmals enthalten diese aber eine Möglichkeit, die barrierefreie Ausgestaltung bei unverhältnismäßigem Mehraufwand unter bestimmten Voraussetzungen zu umgehen.

Die durch das BGG formulierten Vorgaben zur Zugänglichkeit ohne besondere Erschwernis für Menschen mit Behinderungen müssen von den Ländern in Landesgleichstellungsgesetzen (LGG) umgesetzt werden. Dies haben seit 2002 jedoch erst acht Länder getan.

 

 

ALT-TAG: Aktueller Planungsstand bei den LGG

Aktueller Planungsstand bei den LGG

 

Die zögerliche Umsetzung wird durch fehlende Fristen im BGG begünstigt. Um die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf Antidiskriminierung zu stärken, fordern Behindertenverbände und Interessengruppen seit langem die Schaffung eines zivilrechtlichen Antidiskriminierungsgesetzes.

 

Stadien

 

Standorte der Stadien

Standorte der Stadien

 

Für Stadien mit einem Fassungsvermögen von mehr als 5000 Zuschauern sind nicht die Landesbauordnungen, sondern die Versammlungsstättenverordnungen zuständig. In diesen sind jedoch nur Minimalanforderungen zur Barrierefreiheit enthalten, die fast ausschließlich die Bedürfnisse von Rollstuhlbenutzern berücksichtigen.

 

gesetzliche Planungsgrundlagen

 

gesetzliche Planungsgrundlagen

 

Für die Ausrichtung der FIFA WM 2006TM gelten für die Stadien zusätzlich die Vorgaben des "Pflichtenhefts Stadion 2006" der FIFA. Die knapp formulierten Anforderungen an die Barrierefreiheit umfassen ebenfalls nur Anzahl und Ausgestaltung der Plätze für Rollstuhlbenutzer.

 

vorgegebene Planungsgrundlagen der FIFA

 

vorgegebene Planungsgrundlagen der FIFA

 

Aus diesem Mangel heraus wurden von der Bundesbehindertenfan-arbeitsgemeinschaft (BBAG) für das Organisationskomitee der FIFA WM 2006TM (OK FIFA WM 2006) Qualitätsstandards zur Barrierefreiheit definiert, um deren Umsetzung die Stadienbetreiber gebeten wurden.

 

Behinderungsprofile und deren Anforderungen

Die Komplexität beim Planen für Menschen mit Behinderungen liegt darin begründet, dass die verschiedenen Gruppen von Menschen mit Mobilitätsbehinderungen und ihre Bedürfnisse isoliert betrachtet werden, obwohl vielfältige Überschneidungen bei den aus der Behinderung resultierenden Nutzungsschwierigkeiten und den daraus abzuleitenden Anforderungen an ein öffentliches Gebäude vorliegen.

Die gemeinsamen Ursachen von Mobilitätsbehinderungen erlauben die Definition von neun Behinderungsprofilen, wie z.B. „Gehen“, „Sehen“ oder „Informationsaufnahme“. Diese ermöglichen eine Zusammenfassung der konkreten Mobilitätsbehinderungen nach ihren Ursachen.

 

Behinderungsprofile und zugeordnete Mobilitätsbehinderungen
Behinderungsprofile und zugeordnete Mobilitätsbehinderungen

 

Im nächsten Schritt werden die Nutzungsschwierigkeiten der verschiedenen Gruppen von Menschen mit Mobilitätsbehinderungen mit der gebauten Umwelt formuliert und die Überschneidungen zusammengefasst. Aus diesen Schwierigkeiten können grundlegende bauliche Anforderungen an ein öffentliches Gebäude abgeleitet werden. Die so ermittelten Anforderungen werden in Kategorien zusammengefasst und bilden die Grundlage für die Entwicklung des Kriterienkatalogs zur Überprüfung der Barrierefreiheit der Stadien vor Ort.

 

 

Beispielhaftes Vorgehen Definition Behinderungsprofile

 

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Beispielhaftes Vorgehen Definition Behinderungsprofile

 

Weitere Anforderungen wurden durch die Befragung von Menschen mit Behinderungen im Rahmen einer Internetumfrage ermittelt und in die Kriterien eingearbeitet.

 

Kriterienkatalog

Das allgemeine Anforderungsmodell wird nun durch die gesetzlichen Vorgaben und die veranstaltungs- und gebäudetypischen Merkmale eines Stadions erweitert und in konkrete Kriterien und Maßnahmen zur Überprüfung eines Stadions überführt. Dazu wird das Stadion in die sechs Funktionsbereiche An- und Abreise, Eingangsbereich, horizontale Erschließung, vertikale Erschließung, Verweilen und Flucht unterteilt. Für jeden Bereich wird eine Bewertungsmatrix mit den wichtigsten Anforderungen erstellt, die eine Erfassung der Ausgestaltung der einzelnen Funktionselemente in Abhängigkeit der Kriterien ermöglicht.

 

Beispielhaftes Vorgehen Definition Behinderungsprofile

 

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Beispielhaftes Vorgehen Definition Behinderungsprofile

 

Die einzelnen Kriterien besitzen für die definierten Behinderungsprofile unterschiedliche Priorität. Dies wird in Form einer Gewichtung in der Bewertungsmatrix ergänzt.

 

Erfassung der Stadien

Mittels des erstellten Kriterienkataloges werden zwei Stadien der FIFA WM 2006TM auf Barrierefreiheit überprüft. Besucht wurden die im Jahr 2004 fertig gestellten Stadien in Leipzig und Köln. In beiden Fällen sind die minimalen Anforderungen der Versammlungsstättenverordnung und der FIFA Vorgaben umgesetzt, d.h. Rollstuhlbenutzer finden eine weitgehende Barrierefreiheit vor, für alle anderen Gruppen ist eine selbständige Teilhabe am Sportevent nicht möglich.

Auf dem Weg zur quantitativen Auswertung stellte sich heraus, dass die Angabe eines kumulierten Barrierefreiheitsgrades (Bafgra-Index) für einen Stadionbereich oder ein ganzes Stadion nicht sinnvoll ist, da dieser für den einzelnen Menschen mit Behinderungen und dessen spezielle Bedürfnisse keine ausreichende Aussagekraft liefert. Stattdessen ist eine individuelle Nutzer-orientierte Sicht erforderlich, die den Bafgra-Index eines einzelnen Benutzers für ein bestimmtes Stadion ermittelt. Dazu wird jedes Kriterium des Katalogs um eine individuelle Gewichtung für die Relevanz des Kriterium für den einzelnen Benutzer erweitert.

Durch die Umkehrung der Auswertung mit repräsentativen Nutzergewichtungen bekommt der Architekt, zusätzlich zu den Vorgaben des Kriterienkatalogs, ein Werkzeug an die Hand, welches ihm die Bewertung der Barrierefreiheit eines Entwurfs für eine einzelne Mobilitätsbehinderung oder ein ganzes Profil ermöglicht.

 

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Mit dem erarbeiteten Bewertungsmodell sind die Grundlagen zur objektiven Bewertung von Sportstätten vorgestellt worden. Durch den modularen Aufbau des Kriterienkatalogs sind Erweiterungen auf andere Gebäude-Typen wie Theater, Veranstaltungshallen etc. möglich. Je mehr Gebäude erfasst sind, desto umfassender stehen Menschen mit Behinderungen verlässliche und individuelle Bewertungen der Barrierefreiheit ihrer Umwelt zur Verfügung.

Die barrierefreie Zugänglichkeit für alle Menschen mit Mobilitätsbehinderungen ist in den besuchten Stadien nicht erfüllt. Zugleich entsprechen sie aber den gesetzlichen Vorgaben. Hier liegt eines der Hauptprobleme. Die minimalen Anforderungen der relevanten Gesetze und Verordnungen konzentrieren sich im wesentlichen auf Anforderungen der Rollstuhlbenutzer, die als planungsrelevant erkannt wurden, eignen sich jedoch nicht dazu, eine Barrierefreiheit für alle Menschen herzustellen.

Durch die Vergleichbarkeit der Anforderungen an Stadien mit denen anderer öffentlicher Gebäude steht mit dem erarbeiteten Kriterienkatalog zum ersten mal eine umfassende Sammlung aller nötigen Anforderungen an eine barrierefreie Umwelt für alle Menschen zur Verfügung. Das Ziel der uneingeschränkten Teilhabe aller Menschen zu allen Lebensbereichen erfordert die Konkretisierung und Erweiterung der bestehenden gesetzlichen Vorgaben, um die Anforderungen des vollständigen Kriterienkatalogs.

 


 

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Christine Lentze